Warum sich deutsche Kliniken digital transformieren müssen… und das auch können!
Ein Interview mit Petra Dahm, Chief Innovation Officer von StellDirVor.
Um das deutsche Gesundheitswesen ist es nicht sonderlich gut bestellt. Hohe Kosten, wenig Personal, Kliniken vor dem Kollaps und ein unaufhaltsamer demografischer Wandel. Dabei könnte die Digitalisierung in vielen Bereichen deutliche Linderung und Potential für neue Ansätze verschaffen. Doch Deutschland hinkt dem Fortschritt hinterher. „Die Digitalkompetenz im Gesundheitswesen ist hierzulande noch sehr gering“, sagt Petra Dahm, bei StellDirVor zuständig für Innovation & Produkte. Das Start-up möchte daran als Beratungs- und Lösungsanbieter für immersive Technologien in der Gesundheitswirtschaft etwas ändern. Unter anderem, indem mit Virtual Reality (VR) Medizinisches und Pflegepersonal gewonnen, ausgebildet und qualifiziert wird sowie Prozesse in Kliniken mit smarten Tools und Technologien wie Augmented Reality optimiert werden – zur Entlastung des Personals. Kein einfacher Job, denn in dem hochregulierten Sektor gibt es Vorbehalte und Widerstände. Dabei ist die Digitalisierung einfacher zu realisieren, als viele denken. Wie, erklärt Expertin Petra Dahm in unserem Blog.
Fehlender Nachwuchs, überlastete Belegschaften und Kostenexplosionen. Kann angesichts dieses toxischen Cocktails die Digitalisierung überhaupt die Situation verbessern. Oder wird durch sie nur alles noch teurer?
Petra Dahm: "Im Bereich der Pflege wird aufgrund des demografischen Wandels bis zum Jahr 2030 ein Drittel der Pflegekräfte in den Ruhestand treten. Auch mit Blick auf die personelle Überforderung durch die Pandemie erscheint vielen der Beruf wenig attraktiv. Allein das macht eine Digitalisierung geradezu zwingend. Zum einen werden junge Kräfte, die Digital Natives, eine digitalisierte Infrastruktur einfordern und zum anderen lassen sich vor allem in den Bereichen der Prozessoptimierung und der Wissensvermittlung mit digitalen Tools schnellere Erfolge erzielen. Medizintechnische Geräte werden immer smarter, aber auch komplexer und sind schnellen Innovationszyklen unterworfen. Um hier das gesamte Potenzial zu nutzen, führt kein Weg daran vorbei, dass Kliniken, aber auch die vor- und nachgeschaltete medizinische Versorgung, Gerätehersteller, Ausbildungsstätten und Forschungseinrichtungen bei der digitalen Transformation zusammenarbeiten. Oft genug ist die dafür notwendige Technologie, etwa Sensorik, Cloud-Anbindungen und Schnittstellen, bereits vorhanden – nur wird diese nicht genutzt. Außerdem muss man das Rad nicht immer neu erfinden. Der Blick in andere Branchen oder auch andere Länder hilft oft, um Mehrwerte für das Gesundheitswesen und damit letztlich die Patienten zu schaffen. Teurer wird die Gesundheitsversorgung dadurch auch nicht. Im Gegenteil: Durch eine bessere Ausbildung, weniger Fehler im Klinikalltag und optimierte Abläufe mit vorausschauenden Systemen werden auf Dauer Kosten gespart."
Kommt Bewegung in das Thema? Wird es jetzt und mittelfristig vermehrt Digitalisierungsinitiativen geben?
Petra Dahm: "Davon gehe ich aus. Zwar gibt es im Gesundheitswesen, anders als in der Industrie, keine so große Grundakzeptanz für digitale Lösungen, doch das ändert sich gerade. Aus drei Gründen: Erstens hat die Pandemie für einen gewissen Leidensdruck gesorgt. Zweitens werden durch technologische Sprünge, wie sichere, schnelle 5G-Netze oder intelligente Vernetzung im Internet of Medical Things, für Kliniken neue wertvolle Anwendungen machbar. So ist es allein schon ein Riesenfortschritt, den Kabelsalat in OPs durch vernetzte Geräte, die via Funk kommunizieren, zu ersetzen. Drittens sind Fachkräftemangel und hohe Burn-out-Raten bei den Belegschaften ein Treiber dafür, dass die Arbeit in der Medizin und Pflege dringend attraktiver werden muss. Etwa, indem durch Digitalisierung standardisierte oder administrative Arbeitsschritte vereinfacht oder sogar überflüssig werden. Auch die Fort- und Weiterbildung kann durch immersive Technologien drastisch verbessert werden."
Wie das? Welche Anwendungsfälle sind denkbar?
Petra Dahm: "Durch den Fachkräftemangel und die damit verbundene Unterbesetzung in vielen Bereichen ist die Vorbereitung auf den praktischen Alltag und die Zusammenarbeit in wechselnden, interprofessionellen Teams oder im Schichtbetrieb umso wichtiger geworden. Gerade in VR-Simulationstrainings bei der Aus-, Fort- und Weiterbildung kann das und auch die Fähigkeit in Stresssituationen schnelle Entscheidungen zu treffen gut eingeübt werden. Auch internationale oder neue Teamkonstellationen können dank innovativer VR-Technologie bereits vorab gemeinsam trainieren und sich so optimal auf den Alltag oder auch seltene Einsatzbereiche (z.B. in der Pädiatrie) vorbereiten. Denn immersive Technologien wie Virtual Reality schaffen die Möglichkeit, die immer komplexer werdenden Trainingsanforderungen ressourcenschonend abzubilden. Die durch Corona geprägten letzten Jahre haben gezeigt, wie wichtig digital und virtuell gestützte Bildungs- und Trainingsangebote sind, um ein flexibles und ortsunabhängiges Lernen zu ermöglichen. Und dies eben nicht nur was theoretische Inhalte, sondern auch was praktisches Remote-Training anbelangt."
Wie lassen sich gleichermaßen die Effizienz des Klinikbetriebes steigern und die Versorgungssicherheit erhöhen?
Petra Dahm: "Die Basis hierfür ist, sich zunächst anzuschauen, welche Daten bereits vorliegen, von personellen über technische bis zu administrativen. Diese Datenpools müssen zunächst harmonisiert werden, um sie aus- und verwertbar zu machen, etwa für eine bedarfsgerechte Personalplanung oder um personelle sowie materielle Bedarfe zu ermitteln. Wesentlich ist, ein solides Datenfundament zu schaffen, eine entsprechende Infrastruktur, um Informationen bruchlos zu erfassen, zu analysieren und zu visualisieren, damit die daraus gewonnenen Erkenntnisse intuitiv vom Personal begriffen werden können. Kurzum: Es geht darum, Daten smart zu machen. Hier steht das Gesundheitswesen allerdings erst ganz am Anfang. Sicherlich, eine Klink mit 20 bis 40 Stationen sowie prä- und postklinischen Prozessen ist ein hochkomplexes Gebilde – doch datentechnisch ist das längst handelbar – siehe andere komplexe Bereiche aus der Infrastruktur, z.B. aus der Mobilität oder Versorgung."
Welche aktuellen Technologien sind der größte Hebel, um die digitale Transformation zu bewältigen?
Petra Dahm: "Das wird ein Zusammenspiel sein. Die größte Herausforderung dabei ist, bestehende und neue Infrastrukturen zusammenzuführen. Hier gibt es noch zu viele unterschiedliche Datentypen und fehlende Schnittstellen. Daher werden IoT und smarte medizintechnische Geräte sowie Infrastrukturen wichtig, um die nötige Konnektivität zu schaffen. Überdies werden geschlossene, proprietäre 5G-Netze wichtig, um die Sicherheit von Patientendaten aber auch von vernetzten Geräten zu gewährleisten. Außerdem wird künstliche Intelligenz (KI) zunehmend eine gewichtige Rolle spielen. So kann KI helfen, im klinischen Datendschungel nicht den Überblick zu verlieren. Hersteller bildgebender Verfahren können mithilfe von KI etwa Bilddaten analysieren und Ärzte bei der Diagnose und Therapie schneller und besser unterstützen. Aber auch das Verwalten und Auffinden medizinischer Geräte und Instrumente kann so vereinfacht werden. All das steigert letztlich die Patientensicherheit, allein schon, weil die Verfügbarkeit von Geräten und Behandlungsräumen gesteigert wird. Es wird also nicht die eine Technologie geben, die der entscheidende Hebel sein wird, sondern das Zusammenspiel verfügbarer Daten, digitaler Tools und sicherer Infrastrukturen."
Ihr Rat: Was sollte der erste Schritt in Richtung Digitalisierung sein?
Petra Dahm: "Das Management von Kliniken sollte zwingend über den Tellerrand schauen. Denn aus anderen Bereichen lässt sich vieles lernen – aus der Blaukittelumgebung kann man Einiges in die Weißkittelumgebung übertragen. Darüber hinaus braucht es auch in Kliniken CIOs, Stabstellen oder einen übergreifenden Digitalverantwortlichen, der die Komplexität des Themas begreift. Ein Mediziner allein hilft an dieser Stelle nur bedingt. Um sich dem Thema zu näheren, kann es hilfreich sein, eine Art virtueller Mini-Szenarios aufzubauen. In diesen Labs lässt sich simulieren und ausprobieren, was wie zu erfolgen hat. Immersive Technologien sind hier ideal, da völlig risikolos Neues erprobt werden kann. Wichtig ist, dass jeder entlang der gesamten Versorgungskette in diesen Prozess einbezogen werden muss, denn sonst bleibt jeder in seinem Silo. Mein Rat: Einfach loslegen. Erfahrungen sammeln. Mut haben. Klar, das ist erstmal personalintensiv und dauert. Aber der Aufwand wird sich schon bald für alle bezahlt machen."
Vielen Dank für das Gespräch.
Was macht StellDirVor?
Vor Gründung der StellDirVor GmbH war das Start-up bereits gut zwei Jahre als Projekt unter dem Verein Thrive-International e.V. aktiv. Das Ziel: innovative Virtual Reality Technologien für die Motivation, Gewinnung und Qualifikation von Pflegepersonal einzusetzen – ein Beruf, dessen Ausübung sich viele nicht vorstellen können. So entstand kurzer Hand der Projektname „Stell Dir V(o)R“. Schließlich lassen sich in Virtual Reality Dinge hautnah erleben, die man sich bis dahin nicht so einfach vorstellen konnte. Heute berät das Unternehmen Gesundheitseinrichtungen und die Gesundheitswirtschaft im Umfeld Prozess- und Wissensmanagement und setzt hier auch schon erfolgreich immersive Technologien ein.
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