Phänomen Plattformökonomie – was Unternehmen jetzt wissen sollten
Verfasst von: Dominik Rüchardt
5/23/2019 Lesezeit : 5 Minuten

Die Digitalisierung verändert nicht nur unsere Wirtschaft, sie schafft sich mit digitalen Geschäftsmodellen sogar eine ganz eigene Ökonomie. Politik und Gesellschaft müssen lernen, mit diesen neuartigen Strukturen und Mechanismen umzugehen. Eine besonders wichtige Struktur ist dabei die der Plattformökonomie. Für Unternehmen birgt diese sowohl enorme Chancen als auch Risiken.

Es geht um digitale Plattformen, die sich rasend schnell ausbreiten und neue, bisher unbekannte globale Netzwerke erschaffen. Die Beispiele sind allseits bekannt: Uber, Facebook, Google und viele weitere wie Airbnb haben sich in kürzester Zeit zum globalen Spieler entwickelt. Der Ökonom Dr. Holger Schmidt verdeutlicht die enorme Wirtschaftskraft der Plattformgiganten regelmäßig in seinem Plattform-Index.

Zwangsläufig treten für Unternehmen zwei Fragen auf:

Die Chance: Kann ich ebenfalls so eine Plattform erschaffen?

Das Risiko: Kann so eine Plattform mein Geschäft in kürzester Zeit massiv beeinflussen?

Um diese Fragen zumindest teilweise zu beantworten, widmen wir uns zunächst den drei wichtigsten Merkmalen der Plattformökonomie.

Merkmal 1: Plattformen nutzen Netzwerkeffekte

Die wichtigste Eigenschaft ist: Plattformen steigern ihren Nutzen für den einzelnen Kunden, je mehr Menschen sich ihr anschließen.

Als Beispiel: Je mehr Kontakte des eigenen Netzwerks bei Facebook wiederzufinden sind, umso größer der Nutzen. Auch für die Werbetreibenden ist jeder zusätzliche Nutzer von Wert. Sogar die Inhalte, die Nutzer auf Facebook konsumieren möchten, werden von anderen Nutzern selbst erstellt und damit umso reichhaltiger, je mehr Nutzer dort aktiv sind. Facebook ist damit der Archetyp der Plattform, in der jeder Beteiligte den Mehrwert erhöht.

Auch Apple-Dienste wie z.B. Verkehrsinformationen basieren auf dem Plattformkonzept: Jedes einzelne Endgerät liefert die Daten, die alle nutzen. Je größer so eine Plattform, desto wertvoller ist sie. Und desto schwerer ist es für andere, in diesen Markt einzutreten. 

Merkmal 2: The winner takes it all

Daraus leitet sich bereits das zweite Prinzip der Plattformanbieter ab: Größe ist der wichtigste Wettbewerbsvorteil. Daher gilt für Plattformanbieter die Regel: Wachse so schnell und umfangreich, dass keiner mehr gegen dich ankommt.

Das hat Uber verinnerlicht. Mit enormen Geldsummen ausgestattet, führt Uber einen aggressiven Kampf um die Vorherrschaft im individuellen Personentransport. Sie wissen, sobald das Geschäft, z.B. durch autonome Fahrzeuge, zum Normalfall wird, wird der Größte gewinnen. Denn der größte Anbieter ist automatisch auch der billigste und der flexibelste.

Wegen dieser schnellen Auslöschung des Wettbewerbs entzieht sich eine Plattformökonomie den normalen Kräften des Marktes. Regulierung ist daher das einzige Mittel, sie zu steuern und den Wettbewerb zu erhalten. Das geht umso leichter, wenn sich das Geschäftsmodell mit konkreten Objekten und Leistungen verbinden lässt. Nur so können Regeln gesetzt und auch überprüft werden. Viele Städte beschränken beispielsweise durch Vermietungsgesetze die Nutzung von Airbnb (u.a. Hamburg mit dem neuen Wohnraumschutzgesetz), andere Städte schränken Uber mit Personenbeförderungsgesetzen ein. Die Regulierung bezieht sich dabei aber niemals auf einen einzelnen Anbieter, sondern stets auf ein Geschäftsmodell. Die Verhandlungen um die Zulässigkeit von Geschäftsmodellen oder um die Feinheiten ihrer Ausprägung, ist daher ein wichtiges Arbeitsfeld für Lobbyisten geworden.

Merkmal 3: Plattformbetreiber steht zwischen Produzent und Kunde

Wie aus den Beispielen bereits deutlich wurde, ist der Kern der Plattformökonomie, dass die angebotenen Leistungen nicht vom Plattformbetreiber selbst erbracht werden. Das erlaubt dem Betreiber eine nahezu grenzenlose Skalierung ohne große eigene Investitionen. Das Geschäftsmodell einer Plattform speist sich in der Regel aus zwei Quellen: Vermittlungsgebühr und Werbung. Doch es gibt noch eine dritte wichtige Komponente: die Schnittstelle zum Endkunden. Der Produzent kann dadurch seine bisherige Vorrangstellung an den Plattformbetreiber verlieren. Nehmen wir als Beispiel Netflix. Im Mai letzten Jahres machte der Video-on-Demand-Anbieter damit Schlagzeilen, erstmals den höchsten Marktwert aller Medienunternehmen in den USA erreicht zu haben. Diese Marktführerschaft führt dazu, dass sich der Verhandlungsvorteil vom Produzenten zum Plattformbetreiber verlagert. Aus der Nutzersicht sind die Vorteile klar, die Loyalität zu einem bestimmten Filmproduzenten ist nicht attraktiv genug. Die Vielfalt und der Komfort der Plattformangebote, die verschiedenste Produktionen zur Verfügung stellt, ist viel attraktiver. In einer aktuellen Studie von Roland Berger für das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie wird das starke Wachstum von Plattformbetreibern im Vergleich zu Industrieunternehmen deutlich.

Im Fall von Netflix geht die Geschichte sogar noch weiter: Die Video-on-Demand-Plattform fährt aktuell die Eigenproduktion hoch und wird damit unabhängig von den Anbietern der Filmindustrie. Damit wird der Betreiber selbst zum Produzenten.

Plattformökonomie in der Industrie 4.0: Kollaboration gewinnt

Plattformökonomie in der Industrie 4.0: Kollaboration gewinnt

Neben den anschaulichen Beispielen aus dem Endkundengeschäft entfalten sich auch im B2B-Sektor plattformbasierte Geschäftsmodelle. Wie immer wird es hier ein wenig komplexer.

Ein sehr anschauliches Beispiel für ein solches neues Geschäftsmodell ist jedoch die Netflix-Variante: Auch im B2B kann es Abonnements (oder „Subscriptions“ geben), entweder für Leistungen wie Software oder Wartung, aber auch für Produkte wie Nutzfahrzeuge oder Maschinen. Hier bestehen die Netzwerkeffekte unter anderem in der Qualitätssicherung durch den Anbieter und die Preisvorteile, die durch die Zentralisierung aller Leistungen entstehen.

Innerhalb von einigen Branchen haben sich außerdem bereits Handelsplattformen entwickelt. Auf der Textilindustrieplattform restposten.de werden beispielsweise Materialien zur Weiterverwendung gehandelt. Bei diesem Geschäftsmodell müssen sich mehrere Anbieter zusammentun, um die Plattform wirklich attraktiv zu machen.

Ein vieldiskutiertes Thema sind deshalb die sogenannten Datenseen. Erzeuger, Verwerter und Nutzer von Daten tun sich zu einem Mehrwertmodell zusammen. Beispielsweise zum Thema Musik: Die akustische Untermalung von Erlebnissen bekommt zunehmend Bedeutung. Ein Datensee könnte Anwendungsszenarien sowie Musikstücke enthalten. Intelligente Programme interpretieren die Kundenanforderungen und errechnen eine optimale Bespielung mit Musik. Dazu können Zusatzdienste angeboten werden, vom Ordern realer Musiker bis zur individuellen Komposition.

Was dabei stets stattfindet, ist die abgestimmte Zusammenarbeit vieler Wertbeiträger. Dieser stete Druck zur Kollaboration mit anderen Herstellern ist ein weiteres markantes Merkmal der Plattformökonomie. Kein angenehmer Zustand, aber hier haben hier den ersten Tipp für Sie:

Tipp 1: Der Druck zur Kollaboration lässt sich minimieren, wenn man selbst den ersten Schritt macht.

Die Schaffung einer neuen Plattform erfordert Distanz zum eigenen Geschäft

Zurück zur Fragestellung, ob sich das eigene Geschäft für eine Plattform eignet.

Um so ein Szenario zu ersinnen, ist es wichtig, sich in die Interessen des Endkunden hineinzuversetzen und methodisch vorzugehen. Eine Möglichkeit dazu ist die Methode des Business Model Canvas. Um die Kundenperspektive auch bei der Ausarbeitung der konkreten Plattformfunktionen konsequent beizubehalten, empfiehlt sich außerdem die Methode des Customer Journey Mappings.

Die Zutaten für so ein Geschäftsmodell können breit gestreut sein, wir nutzen als Beispiel eine Logistikbörse für die Vermeidung von Leerfahrten. Beteiligt an der Plattform wären also mindestens ein Transportanbieter (auch hier wird allerdings langfristig nur eine Kollaboration mit anderen Tranportanbietern einen Mehrwert bieten), der Anbieter der Waren (also der Sender) sowie der Empfänger der Waren (also der Empfänger). Damit gäbe es allein schon zwei verschiedene Kundengruppen. Weitere mögliche Teilnehmer wären beispielweise Hotellerieanbieter.

Tipp 2: Das Plattformmodell sollte so einfach und robust wie möglich gehalten werden. Bei der Verknüpfung mit weiteren Plattformen oder Anbietern sind Schnittstellenprobleme vorprogrammiert.

Im obigen Beispiel gäbe es die Entscheidung, ob eine Logistikplattform eine Verknüpfung zu einer Hotelplattform anbieten sollte oder ob nur Hotelbetreibern erlaubt werden sollte, auf der Logistikplattform Angebote einzustellen. Die Gefahr bei der Verknüpfung von Plattformen, die in getrennter Verantwortung gepflegt werden, sind Schnittstellenprobleme – z.B. könnte das System freie mit belegten Zimmern verwechseln. Solche Probleme sind fatal, da sie das Vertrauen der Kunden sehr schnell zerstören. Es ist also wichtig, hier sehr sorgfältig vorzugehen und Robustheit im Zweifel der Vielfalt vorzuziehen.

Tipp 3: Gleich zu Beginn Ihrer strategischen Überlegungen sollten Sie die bestehenden Regulierungen miteinbeziehen. Stellen Sie sicher, dass Sie auf dem Laufenden bleiben und nehmen Sie Kontakt zu den Entscheidungsgremien der öffentlichen Hand auf – sei es auf kommunaler, landesweiter oder nationaler Ebene.

Der Wettbewerb ist groß. Andere Plattformanbieter wie Saloodo!, Pamyra, Instafreight und Freighthub sind bereits auf dem Vormarsch. Mit dem großen Potential solcher Plattformlösungen ist eben auch eine hohe Finanzkraft und ein starker Wettbewerb verbunden. Um eine Logistikplattform erfolgreich auf die Straße zu bringen, ist somit hoher Einsatz gefragt.

Gemeinsam mit einem starken Partnernetzwerk arbeiten wir im European 4.0 Transformation Center an der RWTH Aachen an Geschäftsmodellen für die Industrie 4.0. Wenn Sie sich konkreter mit der Geschäftsmodellentwicklung auseinandersetzen möchten, empfehlen wir Ihnen den Zertifikatskurs „Business Model Innovation“ der RWTH Aachen vom 2. bis 6. September. Impulse und Beratung für Ihre digitale Transformation erhalten Sie außerdem bei einem Besuch im Aachener European 4.0 Transformation Center oder dem Digital Capability Center.

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Der Autor Dominik Rüchardt

Dominik Rüchardt, Senior Director Global Value Program Strategy bei PTC und Vorsitzender des AK Industrie 4.0 Markt & Stategie im Bitkom