In Zeiten des kontinuierlichen Wandels nimmt die Fähigkeit zu Lernen eine Schlüsselkompetenz ein. Das heißt, wenn die erfolgreiche Digitalisierung einen elementaren Wettbewerbsvorteil für jede Organisation und Nation darstellt, stellt die Lernkultur den Herzschlag der Gemeinschaft dar. Und doch lösen Begriffe wie „Lebenslanges Lernen“ (engl. Lifelong Learning) bei vielen Erwachsenen ein quälendes Gefühl in der Magengrube aus. Wieso verlieren wir die Lust am Lernen und damit unsere Wettbewerbsfähigkeit? Und wie holen wir sie uns wieder?
Wenn wir über Lernkultur sprechen, müssen wir uns anschauen, wie wir lernen zu lernen. Unbekannten Situationen begegnen unsere Kinder mit Erkundungslust, Ideenreichtum und Begeisterung. Von Geburt an sind wir neugierig, lernen spielerisch und in fast schon kometenhafter Geschwindigkeit. Doch dem kindlichen Durst nach Neuem weicht bald die Übersättigung. Denn nach Jahrzehnten der oktroyierten Wissensvermittlung unter Druck scheint der Frust bald größer als der Spaß am Lernen. Lehrpläne sollen den Erwerb überdauernder Kompetenzen sicherstellen. Fächerübergreifende, praxisbezogene Projekte gehören jedoch kaum zum Alltag unserer Kinder. Überdauernd ist daher ein dehnbarer Begriff. Bis zur nächsten Klausur scheint eher der Realität zu entsprechen.
Doch wieso bringt das stupide Auswendiglernen nicht den erhofften Langzeiterfolg? Interessant ist dabei doch eigentlich, was wir in der Schule nicht lernen: das Warum. Der Sinn und die kontextbezogene Logik hinter Mathe, Biologie oder Physik. Uns fehlt ein Verständnis dafür, was uns als Menschen ausmacht und warum Lernen weit mehr zum Ziel hat als Geldverdienen und Status. Der kürzlich veröffentlichte Bildungsmonitor 2019 attestiert uns schließlich steigende Schulabbrecherzahlen. Alarmierende Tendenzen, doch der Aufschrei ist ausgeblieben. Die Köpfe sind voll, doch der Nachwuchs ohne Orientierung. Die Frage ist, ob unsere Bildungseinrichtungen ein positives Selbstbild im Bezug auf Lernen vermitteln oder eher langanhaltende Aversionen befeuern.
Viel zu selten ist uns bewusst, dass unser Gehirn eine echte Hochleistungsmaschine ist. Zu verhindern, dass unser gesundes Gehirn lernt, ist schlichtweg unmöglich. Tatsächlich macht unser Gehirn nichts lieber als Lernen. Und so lernen wir ständig dazu. Selbstverständlich besitzen Erwachsene nach wie vor einen Spieltrieb und versuchen ihren Informationshunger, also das Bedürfnis ihres Gehirns nach neuen Synapsenverbindungen, zu stillen. Nach einer spontanen und sicherlich nicht repräsentativen Umfrage in meinem Netzwerk haben sich zwei unterschiedliche Modelle herauskristallisiert:
Beiden Typen stellen eine bewusste Verallgemeinerung da, um weiterführende Gedanken zu veranschaulichen. Während die Transformation der Arbeitswelt fortschreitet, werden Organisationen einerseits vor die Herausforderung gestellt ihre Teams auf neue Arbeitsabläufe, Geschäftsmodelle und Berufsbilder vorzubereiten und andererseits die Teile der Organisation zu überzeugen, die dem Paradigmenwechsel kritisch gegenüberstehen. Ein Kraftakt, ohne Frage. Doch die Digitalisierung ruft auch das Thema Employability auf den Plan. Employa-was? Mit Employability ist unser „Marktwert“ gemeint, also die Fähigkeit, auf dem Arbeitsmarkt zu bestehen. Die Verantwortung diese sicherzustellen liegt sowohl beim Arbeitgeber als auch beim Arbeitnehmer.
In einer aktuellen, von PTC in Auftrag gegebenen Umfrage mit über 900 Teilnehmern auf Computerwoche.de gaben lediglich 19 % der Teilnehmer an, dass fachliche und persönliche Entwicklung elementarer Bestandteil der Unternehmenskultur sei. Noch viel frappierender ist die Erkenntnis, dass fast 66 % der Befragten angaben, dass fachliche und persönliche Förderungsmaßnahmen vom Engagement der direkten Führungskraft abhängen und nicht von der persönlichen Eignung, geschweige denn von den Anforderungen des zukünftigen Arbeitsmarktes. Insbesondere Typ A droht hier den Anschluss an zukünftige Anforderungen zu verlieren.
Zu argumentieren, dass Unternehmen und Privatpersonen in Deutschland zu wenig in Aus- oder Weiterbildung investieren wäre übrigens falsch. 27 Milliarden Euro werden pro Jahr in Weiterbildungsmaßnahmen investiert, so eine Langzeitstudie. Die Investitionen versickern jedoch oft effektlos, da das neue Wissen kaum praktische Anwendung und somit kaum den Weg ins Langzeitgedächtnis findet. Hier droht Typ B, der unter Umständen sogar private Mittel in die eigene Weiterbildung investiert, bei mangelnder (Be-)Förderung zu resignieren oder schlimmstenfalls abzuwandern. Die Annahme, dass das Geschäft mit der beruflichen Bildung in Deutschland vor allem eines ist, ein Geschäftsmodell, scheint durch eine weitere Erkenntnis unserer Umfrage gestützt zu werden: Nur 3 % der Umfrageteilnehmer bestätigten, dass Trainings- und Weiterbildungsmaßnahmen darauf abzielen; dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Die Vermutung liegt nahe, dass Bildungsangebote eher als Employer-Branding-Argument genutzt werden, als Bestandsmitarbeitern rechtzeitig relevante Schlüsselqualifikationen für freiwerdende oder neu entstehende Berufsbilder zu vermitteln, geschweige denn sie an persönlichen Entwicklungszielen auszurichten.
In einer 2018 veröffentlichten Analyse des Stifterverbandes und McKinsey „Future Skills: Welche Kompetenzen in Deutschland fehlen“ wird ein Weiterbildungsbedarf von 2.4 Millionen Erwerbstätigen berechnet. Der Weiterbildungsbedarf erstreckt sich branchenübergreifend auf drei Kategorien an Fähigkeiten. Vor diesem Hintergrund und der Tatsache, dass sich innerhalb der nächsten 10 Jahre der Anteil der Arbeit verdoppelt, der technisches Wissen voraussetzt, erscheinen die obengenannten 3 % alarmierend niedrig. Zusätzlich wird ein Bedarf an über 700.000 IT- und Tech-Spezialisten bis 2023 ermittelt.
Quelle: Grafik angelehnt an Future Skills Framework, Stifterverband (Link)
Beide Mitarbeitertypen, A und B, können durch ihre eigenen Anstrengungen im Bereich der nicht-digitalen Schlüsselqualifikationen gut aufgestellt sein, doch schon bei den digitalen Schlüsselqualifikationen (bspw. Agiles Arbeiten, digitale Grundkompetenzen) könnte Typ A zurückfallen. Um technischen Fachwissen zu erlangen und nachhaltig im Berufsalltag zu implementieren, benötigen beide Typen Anleitung, Investitionen und Freiraum. Selbstverständlich müssen nicht alle Mitarbeiter Data Scientists sein, um auf dem Arbeitsmarkt der Zukunft zu bestehen und die Wettbewerbsfähigkeit Ihren Unternehmens zu sichern. Doch alle drei Kernbereiche unterliegen einer fortwährenden Dynamik. Nun fragen Sie sich vielleicht, welche Maßnahmen Mitarbeiter und Führungskräfte dazu animieren die oben aufgeführten Qualifikationen aufzubauen und weiterzuentwickeln. Die schlechte Nachricht ist, mit ‚ein paar Maßnahmen‘ ist es nicht getan.
Der Aufbau einer gesunden und lebendigen Lernkultur ist ein Gemeinschaftsprojekt. Jeder trägt dabei seine Verantwortung. Heute werben Unternehmen oft mit teuren Lernplattformen oder umfangreichen Weiterbildungskatalogen. Ein Marketing-Coup, denn paradoxerweise scheinen nicht alle Führungskräfte dies stets zu unterstützen. Was wir brauchen, ist ein echter Kulturwandel. Füllen wir die Hülle mit Leben! Im Folgenden werden Ansätze vorgestellt, wie Lernangebote sinnvoll in der Unternehmenskultur und -strategie verankert werden können.
Als Erwachsene fragen wir Kinder, was sie später werden wollen. Alte Menschen fragen wir nach den Menschen, die sie einmal waren. In Mitarbeiter- und Einstellungsgesprächen fragen wir schließlich Erwachsene, was sie in drei bis fünf Jahren sein wollen. Als ob das Hier und Jetzt nicht genug wäre. Als ob wir als Menschen irgendwann „fertig“ sein müssten oder einem Ideal entsprechend. Der Optimierungsdruck verfolgt uns früh. Vielleicht liegt hier auch das Problem. Wir verstehen Lernen nicht als Teil unseres Selbst, sondern als etwas Auferlegtes. Unser Selbstbild wird ständig infrage gestellt, also geben wir unser Bestes uns anzupassen. Sprechen Sie deshalb nicht von Lifelong Learning. Der Begriff assoziiert bei den meisten Menschen Anstrengung, Druck und Verpflichtung. Bringen wir unseren Mitarbeitern eine Denkweise bei, in der Menschen beginnen über ihre Stärken und Schwächen ernsthaft nachzudenken ohne vor sich selbst davon zu laufen – und dies nicht erst dann, wenn sie im halbjährlichen Personalgespräch darum gebeten werden. Es geht vielmehr um das Verständnis, dass wir als Menschen dynamisch und unaufhörlich dazulernen, ob wir es wollen oder nicht, und es in unserer Macht liegt, was wir unserem Hirn zu essen geben. Wie bei einer ausgewogenen Ernährung. Growth Mindset ist der Glaube an uns selbst und dass wir unser Schicksal, den Schlüssel zum Erfolg, selbst in der Hand haben. Fragen wir also nicht „Wo siehst du dich in fünf Jahren?“, sondern „Was macht dich neugierig?“ oder „Was treibt dich an?“. Solange wir existieren, entwickeln wir uns. Richten wir diese Entwicklung an der Zukunft aus und machen wir sie so angenehm, spielerisch und natürlich, wie wir es als Kinder tun.
Wir bei PTC arbeiten übrigens mit Technologien wie Augmented Reality daran, die Lust am Lernen zu fördern. Mehr über den neurowissenschaftlichen Hintergrund von AR und die Effekte auf Lern- und Erinnerungsvermögen erfahren Sie in unserem aktuellen Forschungsbericht.
Quellen:
ZEIT ONLINE (2019): Zahl der Schulabbrecher steigt (Link)
Springer Professional (2019): Unternehmen und Mitarbeiter zahlen mehr für Weiterbildung (Link)
McKinsey & Company (2018): Massiver Bedarf an Technologiespezialisten und Weiterbildung bis 2023 (Link)
Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer (2012): Wie lernen Kinder? Aktuelles aus der Gehirnforschung (Link zu YouTube-Video)
Helen Orgis schloss ihr Wirtschaftsstudium an der Northumbria University mit Auszeichnung ab und hat einen Master-Abschluss in Corporate Communication von der Hochschule für Oekonomie & Management München. Ihre Leidenschaft für neueste Technologietrends und Innovationen geht auf ihre frühe Karriere zurück, wo sie bereits im Alter von 25 Jahren ein interdisziplinäres Transformationsprojekt bei einer der weltweit größten Versicherungsgesellschaften verantwortete. Sie ist eine erfahrene Digital Marketing Expertin und Technologie-Evangelistin.
In ihrer jetzigen Funktion als Head of Content Strategy & Digital Growth EMEA treibt sie die digitalen Wachstumsstrategien und Marketing Best Practices in Europa voran. Sie engagiert sich aktiv für mehr Frauen in der Technologiebranche und ist Co-Founderin von Zukunftsnarrative.com. Seit Februar 2019 ist sie aktives Mitglied des Digitalverbands Bitkom.
Helen’s Mission ist jeder Person und Organisation dabei zu helfen, von den neuen Technologien zu profitieren, individuelle digitale Kompetenzen aufzubauen und dadurch Zugang zur intelligenten, vernetzten Welt von Morgen zu erhalten.